Begegnung
Begegnungen mit anderen sind immer auch Begegnungen mit uns selbst.
So wichtig wie das gelegentliche Alleinsein ist, um zu sich selbst zurück zu finden und zu spüren, von welchen Gedanken und Emotionen die eigene Psyche in Abgrenzung zur Umgebung gerade erfüllt ist, so bedeutsam ist es, durch ein Gegenüber mitfühlende Spiegelung und Resonanz zu erfahren. In tiefer Verbindung mit anderen Menschen können Sie in innere Räume Ihres Selbst eintreten, zu denen Sie allein keinen Zugang bekämen.
Der Begriff der Spiegelung beschreibt - nach dem Psychoanalytiker Kohut - zunächst einmal das einfühlsame Eingehen der Eltern (zu Zeiten Kohuts: der Mutter) auf die Äußerungen des Kleinkindes. Gelingt es den Eltern, die Regungen des Kindes in einer Weise zu erwidern, dass dieses sich verstanden und geliebt fühlen kann, so macht das Kind die grundlegende Erfahrung…
dass es gewollt ist; d. h. dass wichtige Bezugspersonen sich an seiner Existenz erfreuen.
dass es so, wie es ist, gewollt ist; d. h. dass es nicht bestimmte Bedürfnisse haben oder ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen muss, um liebenswert zu sein.
Das Kind sucht das Lächeln, den ‘Glanz im Auge der Mutter’ (Kohut, 1973), um sich rückzuversichern, so wie es ist, liebenswert zu sein und existieren zu dürfen. - Welche Wirkung hat es heute auf Sie als Erwachsenen, von jemandem freundlich angelächelt zu werden? Merken Sie, wie sogleich der Impuls aufkommt, das Lächeln zu erwidern?
Findet eine solche Spiegelung im Kleinkindalter nicht ausreichend statt, so können sich emotionale Defizite ausbilden, die es später im Leben erschweren, auf andere Menschen zuzugehen und sich als die Person zu zeigen, die Sie sind. Eine tiefe Scham für das Bedürfnis nach Nähe kann verhindern, sich anderen zu öffnen und zu zeigen. Die sogenannte Ur-Scham beschreibt das Gefühl, kein Existenzrecht zu haben, da man sich im Kern als ‘falsch’ erlebt. Dieses Gefühl, so schrecklich es ist, ist für das kleine, von den Eltern vollkommen abhängige Kind letztlich leichter auszuhalten als die Vorstellung, keinerlei Aussicht auf liebende Eltern zu haben. ‘Wenn ich nicht geliebt werde, weil ich falsch bin, muss ich einfach versuchen, anders zu sein und dann werde ich endlich geliebt.’, denkt sich das emotional ausgehungerte Kind und macht sich daran, sich an die Bedürfnisse und (unausgesprochenen) Erwartungen seiner Nächsten anzupassen. Es entwickelt ein ‘falsches Selbst’ (Winnicott, 1960).
Menschen, die als Kinder zu oft solche Erfahrungen machen mussten, neigen dazu, sich aus sozialen Kontakten zurück zu ziehen oder aber in sozialen Situationen eine Rolle zu spielen, die sie meinen, erfüllen zu müssen. Beides schützt sie kurzfristig und ist insofern erst einmal ein wichtiger Lösungsversuch, der das psychische Überleben sichert. Langfristig beibehalten jedoch führt es in die Einsamkeit und Depression, denn als Menschen sind wir auf authentische Begegnungen angewiesen. Wir brauchen das Gefühl, als die, die wir sind, angenommen und verstanden zu werden. Ganz besonders in Zeiten, in denen wir uns selbst gegenüber dazu nicht in der Lage sind.
Von wem fühlten Sie sich zuletzt gesehen und verstanden, ohne dass Sie damit gerechnet hätten? Gibt es einen oder mehrere Menschen in Ihrem Leben, in deren Blicken, Worten, Gesten Sie sich wertschätzend gespiegelt fühlen? Fällt Ihnen eine alltägliche Begegnung ein, die Ihnen Energie gegeben und Freude bereitet hat, anstatt Sie Kraft zu kosten?
Als Erwachsener sind Sie - anders als im Kindesalter - in der Lage, selbst zu entscheiden, mit welchen Menschen Sie tiefere Beziehungen eingehen möchten - und mit wem nicht. Die Kunst, freilich, besteht darin, ‘die Spreu vom Weizen zu trennen’. Dies ist nicht wertend gemeint. Menschen sind ganz unterschiedlich in Temperament und Reife; es wäre vermessen zu erwarten, dass zwischen allen überwiegend Sympathie entsteht. (Wünschenswert wäre natürlich: Toleranz…)
Worauf ich hinaus will: Wenn Sie soziale Kontakte scheuen oder diese zu oft als enttäuschend erleben, könnten Sie dies als Anlass nehmen, ein besseres Gespür dafür zu entwickeln, wie Sie sich und andere in sozialen Situationen erleben, was Ihnen Freude bereitet, Sie inspiriert, was Ihnen überwiegend Kraft gibt oder entzieht. Welchen Anteil haben Sie daran, welchen Anteil hat Ihr Gegenüber, den Sie nicht ändern können? Mit Hilfe einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, vielleicht sogar einer Gruppentherapie, können Sie sich auf Forschungsreise begeben, eigene festgefahrene Muster überwinden und sich in Abgrenzung zu Verhaltensweisen anderer Ihnen gegenüber üben, die Ihnen nicht gut tun.
Ich möchte Sie ermutigen, sich auf die Suche nach Menschen und Begegnungen zu machen, die Ihnen Freude bereiten und jene wertzuschätzen, die Sie in Ihrem Leben bereits versammelt haben. Auch kurzweilige Begegnungen beim Sport, im Chor, im Café können dazu zählen. Wichtig: Es ist keine Schande, auf andere angewiesen zu sein. Es mag mitunter Angst machen, weil es uns abhängig macht. Aber was wäre die Welt ohne Verbindung? Wie traurig, wenn wir alle nur lose nebeneinander her leben und uns um unsere eigenen Interessen kümmern würden… Inspiration, Erkenntnis, Freude und persönliche Entwicklung sind nur in tiefer Verbindung zu anderen Menschen möglich.