Parentifizierung
Nichts ist für Kinder von so elementarer Bedeutung wie, dass es ihren nächsten Bezugspersonen - meist die Eltern - gut geht. Zum einen spüren sie die eigene Abhängigkeit. Eltern können und wissen einfach viel mehr: Fahrrad oder Auto fahren, Regale bauen, Kochen, Geld verdienen, das für Miete, Nahrung, Kleidung, vielleicht Urlaube benötigt wird usw. Zum anderen lieben sie ihre Eltern einfach, denn keinem anderen Menschen sind sie bisher so nahe gekommen wie ihnen.
Wenn Eltern über einen längeren Zeitraum stark unter eigenen Belastungen leiden, z. B. durch psychische oder körperliche Erkrankungen, werden ihre Kinder nicht nur bemüht sein, möglichst wenig zur Last zu fallen, um ihre Eltern zu schonen und damit letztlich auch für sich selbst zu sorgen. Sie werden darüber hinaus versuchen, ihren Eltern - wo es nur geht - unter die Arme zu greifen und eine emotionale Stütze zu sein. Dies führt zu einer Rollenumkehr innerhalb des Familiensystems. Die Kinder übernehmen - vor der Zeit - eine reife, erwachsene Rolle, während die Eltern - gleich Kindern - Verantwortung abgeben und sich versorgen lassen. Es kommt zur Parentifizierung der Kinder, die mehr Verantwortung übernehmen (müssen), als sie in ihrem Alter sollten und hierdurch emotionale Schwierigkeiten entwickeln, die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen und zu ernsthaften psychischen Erkrankungen führen können.
Insbesondere der emotionale Aspekt der Parentifizierung - die sogenannte emotionale Parentifizierung - stellt eine große Gefahr für Kinder dar. Was können Folgen sein? Hier ein paar Beispiele:
Parentifizierte Kinder bleiben eng an einen bedürftigen Elternteil gebunden, sodass ihre autonome Entwicklung gehemmt ist und sie weniger Raum haben, persönliche Interessen zu verfolgen und ihre Identität zu formen.
Parentifizierte Kinder eignen sich ein beeindruckendes Einfühlungsvermögen gegenüber ihren Mitmenschen an, haben jedoch oftmals wenig Gespür für das, was in ihnen selbst vorgeht, was sie fühlen, was sie sich wünschen.
Parentifizierte Kinder machen nicht die wichtige Erfahrung, sich von ihren Eltern in ihren Bedürfnissen, Wünschen und Gefühlen ausreichend gesehen und gespiegelt zu fühlen, was sich negativ auf ihren Selbstwert auswirkt. Zur Kompensation müssen andere Strategien entwickelt werden, den brüchigen Selbstwert zu stabilisieren, z. B. überhöhte Leistungsansprüche (‘Wenn ich keine 1+ schreibe, bin ich wertloser als meine Klassenkameradin, die eine 5 geschrieben hat.’) oder ein Helfersyndrom (‘Wenn ich mich für andere aufopfere, bekomme ich Anerkennung, auf die ich so dringend angewiesen bin.’)
Selbst einen emotionalen Mangel in der Kindheit erlebt zu haben, sich von seinen Eltern nicht ausreichend gesehen und gehört gefühlt zu haben, hat traumatischen Charakter und steigert oftmals die emotionale Bedürftigkeit bis ins Erwachsenenalter. Die Gefahr ist groß - wie so oft in der Psychologie - diese traumatischen Erfahrungen an die nächste Generation, die eigenen Kinder weiter zu geben. Auch die Fähigkeit, sich auf andere Menschen einzulassen und emotionale Nähe zuzulassen, kann gehemmt sein. Denn die unbewusste Erwartung und Sorge lautet: ‘Wenn ich große Nähe zulasse, werde ich emotional ausgebeutet und vereinnahmt. Wer frei sein will, muss allein sein.’
Wie können Sie erforschen, ob Sie selbst Parentifizierung erlebt haben? Hier ein paar Anregungen:
Fällt es Ihnen schwer, anderen Menschen Grenzen zu setzen und für Ihre Bedürfnisse einzustehen?
Sind Sie oft bemüht, die Erwartungen anderer zu erahnen und möglichst zu erfüllen?
Haben Sie das Gefühl, nicht zu wissen, wer Sie sind und was Sie wollen?
Im psychotherapeutischen Prozess oder Coaching lassen sich diese und weitere Fragen mit einem professionellen Gegenüber untersuchen. Gemeinsam mit Ihrer tiefenpsychologisch arbeitenden Therapeutin oder Coachin können Sie die Beziehung zu Ihren Eltern sowie Kindheitsmuster erforschen und auf aktuell schwierige Situationen beziehen. So gelangen Sie zu einem vertieften Verständnis für sich selbst, können Handlungsalternativen entwickeln und zuvor unbewusste schmerzhafte Erfahrungen durcharbeiten, loslassen.