Worin C. G. Jung das Wesen der Träume sieht
Sigmund Freud und C. G. Jung haben sich als Psychoanalytiker und Ärzte beide intensiv mit Träumen beschäftigt. Während Freud in der Traumdeutung den Aspekt der Wunscherfüllung fokussierte, entwickelte Jung mit der Zeit eine eigene Theorie zum Verständnis des Wesens der Träume. Er ging davon aus, dass Träume das aufzeigen, was im Bewusstsein noch nicht zur Sprache gekommen ist. Diesen Mechanismus nannte er: Kompensation.
Lass uns in diesem Artikel gemeinsam erforschen, welchen spezifischen Blick Jung auf Träume warf. Und wie uns dies noch heute helfen kann, unsere Träume zu verstehen und für unsere persönliche Entwicklung zu nutzen.
Das Unbewusste als Kompagnon
Beide Traum-Theorien - Freuds und Jungs - enthalten spannende Gedanken. Für mich persönlich war Freud derjenige, der als erster mein Interesse für Träume und Traumdeutung weckte. Was er in seinem Text Traumdeutung (1900) schrieb faszinierte und inspirierte mich. Jungs Ansätzen zum Traumverständnis konnte ich später jedoch noch mehr abgewinnen. Auch da in seinen Texten das Unbewusste weniger wie ein Gegner wirkt, der seine Inhalte durch Zensur verstecken will. Sondern mehr wie ein Kompagnon, der in seiner ganz eigenen Sprache spricht und uns - wenn wir lernen, diese zu entschlüsseln - bereitwillig und offen hilfreiche Hinweise über uns selbst sowie kreative Lösungen für herausfordernde Situationen zur Verfügung stellt.
Im letzten Viertel seiner Textsammlung ‘Traum und Traumdeutung’ verlor mich Jung dann jedoch und seine Argumentationen konnten mich kaum noch überzeugen. Sie erschienen mir allzu spekulativ. Das müsste an sich noch kein Hindernis sein, denn auch Spekulationen können eindrucksvoll, prägend, berührend und überzeugend sein, wie Freud mit seiner Kreation des Todestriebs in ‘Jenseits des Lustprinzips’ zeigt. Doch Jungs Spekulationen zur Traumsymbolik berührten mich nie mit ähnlicher Tiefe.
Dennoch habe ich Jung etwas ganz Entscheidendes zu verdanken: Durch ihn begann ich, das Unbewusste mehr als einen Gefährten, weniger als einen bedrohlichen Gegner anzusehen. So konnte ich ihm mit weniger Angst begegnen und mich auf den Weg machen, meine Verbindung zu ihm zu vertiefen. Das war unendlich wertvoll für meinen persönlichen Heilungs- und Individuationsprozess.
Jung hat mir erklärt, dass ich herausfinden kann, wer ich wirklich bin und wie ich eigentlich leben will, wenn ich mich mit meinem Unbewussten befasse. Und er hat es geschafft, dass ich ihm glaube. Mit ein paar Blättern bedruckten Papiers, die mir lange nach seinem Tod erst in die Hände fielen. Diese Fähigkeit von Menschen, durch Worte - seien sie wissenschaftlich oder literarisch - über geographische und zeitliche Grenzen hinweg zu kommunizieren, wird nie aufhören, mich zu faszinieren.
Träume als Kompensation
Jung geht davon aus, dass Träumen die Aufgabe zukommt, jene Themen abzubilden, die in unserem Bewusstsein (noch) nicht zu Wort gekommen sind. Er nennt diesen Wirkfaktor: Kompensation. Er beschreibt drei Varianten der Kompensation:
“In dieser Hinsicht gibt es drei Möglichkeiten. Wenn die Einstellung des Bewußtseins zur Lebenssituation in hohem Maße einseitig ist, stellt sich der Traum auf die Gegenseite. Hat das Bewußtsein eine der »Mitte« relativ angenäherte Stellung, so begnügt sich der Traum mit Varianten. Ist die Stellung des Bewußtseins aber »korrekt« (adäquat), so koinzidiert der Traum und unterstreicht damit dessen Tendenz, ohne jedoch dabei seine ihm eigentümliche Autonomie zu verlieren.”*
Dieser kompensatorische Charakter der Träume ermöglicht es laut Jung, mit ihrer Hilfe neue Perspektiven auf Herausforderungen zu entwickeln und neue Wege zu entdecken, “die über den gefürchteten Stillstand hinweghelfen”. Aus meiner Sicht gilt dies nicht nur für die psychotherapeutische Situation, sondern lässt sich auch auf Coaching- und Supervisions-Prozesse erweitern.
Träume als Individuationsprozess
Jung wird im Folgenden noch spezifischer, was das Wesen von Träumen angeht. Er beschreibt, dass sie nicht nur für sich allein stehende Phänomene sind, sondern einer “Art von Plan” folgen:
“Sie scheinen unter sich zusammenzuhängen und in tieferem Sinne einem gemeinsamen Ziel untergeordnet zu sein, so daß eine lange Traumserie nicht mehr als ein sinnloses Aneinanderreihen inkohärenter und einmaliger Geschehnisse erscheint, sondern als ein wie in planvollen Stufen verlaufener Entwicklungs- oder Ordnungsprozeß. Ich habe diesen (…) Vorgang als Individuationsprozeß bezeichnet.”
Da ist er: der Individuationsprozess. Wichtig dabei: Jung geht es erst einmal um Träume, die im Rahmen einer psychoanalytischen Behandlung geträumt werden. Der psychoanalytische Behandlungsprozess bietet hier also den Rahmen für den in Träumen ausgedrückten verdichteten Individuationsprozess.
Auch in Coaching und Supervision erleben Klienten Entwicklungsprozesse, wenngleich meist über einen kürzeren Zeitraum hinweg. Dennoch können auch hier sicherlich Traumserien auftauchen und untersucht werden, die einen spezifischen Individuationsprozess innerhalb des Coaching- oder Supervisions-Prozesses abbilden.
Ich gehe davon aus, dass auch außerhalb solcher professionellen Settings Traumserien stattfinden. Denn nicht jede intensive Entwicklungsphase wird professionell begleitet. Und wichtiger, entwicklungsfördernder Austausch kann schließlich auch im privaten Umfeld stattfinden, ob mit engen Freunden, Familie oder Partner:innen.
Die Gestalt der Träume
Es gibt keine einheitliche Struktur, die auf jeden erinnerten Traum zutrifft oder anwendbar wäre. Erst neulich beschrieb eine Klient:in von mir eine Traumerinnerung als ein Gefühl, das sich bei ihr eingestellt habe. Dem sie jedoch keine Bilder, Szenen oder Figuren hinzufügen konnte. Träumte sie zusätzlich zu dem Gefühl eine Szene, die sie nun nicht mehr erinnert? Ist ein Traum noch ein Traum, wenn er nicht aus Bildern, sondern nur noch aus Gefühlseindrücken besteht?
Jung schreibt:
“ Was nun endlich die Gestalt der Träume anbetrifft, so findet sich schlechterdings alles, vom blitzartigen Eindruck bis zum unendlich langen Traumgespinst.”
Und weiter:
“Immerhin gibt es eine große Mehrzahl »durchschnittlicher« Träume, in denen sich eine gewisse Struktur erkennen läßt; und zwar ist sie derjenigen des Dramas nicht unähnlich.”
Solche Träume enthalten eine Ortsangabe: ‘Ich befinde mich in einer Wüste/einem großen Saal/einem engen Flur’ usw.
Hinzu kommen weitere handelnde Personen: ‘Ich sitze in einem Zugwaggon und bin von Fahrgästen umgeben, die mich skeptisch anschauen/mir keine Beachtung schenken.’
In der folgenden Phase kommt es laut Jung zu Verstrickungen und Komplikationen: ‘Ein Schaffner betritt unseren Waggon und beginnt, die Fahrkarten zu kontrollieren. Mir fällt plötzlich ein, dass ich keine Fahrkarte besitze/ Er schaut auf meine Fahrkarte und stellt fest, dass sie ungültig ist…’
In der dritten Phase spitzt sich etwas zu: ‘Der Schaffner fordert mich auf, den Zug sofort zu verlassen, obwohl er noch fährt.’
In der vierten Phase kommt es zu einer Lösung oder einem Resultat. Im Traum mit dem Zugwaggon könnte dies z. B. sein: ‘Der Zug fährt in einen Bahnhof ein und hält an, sodass ich in Ruhe aussteigen kann.’ Oder auch: ‘Mir bleibt nichts anderes übrig als aus dem rasenden Zug zu springen. Ich verspüre große Angst und wache auf, bevor ich auf dem Boden aufpralle.’
Wer hat Recht: das Unbewusste oder das Bewusstsein?
Die Versuchung ist groß, in Träumen - und damit auch im Unbewussten - eine höhere, dem Bewusstsein überlegene Wahrheit zu sehen. So braucht nicht mehr reflektiert und ausbalanciert zu werden zwischen bewussten Überlegungen und unbewussten Trauminhalten, Gefühlen und Handlungsimpulsen. Es kann einfach das getan werden, was der Traum uns (symbolisch) rät. Und wir Menschen lieben einfache Lösungen.
Doch dies ist zu simpel gedacht und bringt uns vom eigentlichen Weg ab. Das Träumen ist ein kreativer Akt und insofern nicht wahr oder unwahr. Sondern eine weitere Perspektive auf eine Situation, in der wir uns - bewusst oder noch unbewusst - wiederfinden.
Anstatt kreative Lösungsvorschläge eines Traums blind zu übernehmen oder den Trauminhalt als wahr, unser bewusstes Denken und Fühlen dagegen als unwahr hinzustellen, geht es vielmehr darum, zwischen beiden Seiten die Verbindung und den Austausch zu stärken. Um dann - am Ende eines längeren Denk- und Gefühlsprozesses - zu einer wohl überlegten Entscheidung zu kommen.
Meiner Erfahrung nach stellt sich eine solche Entscheidung oft als ein Gefühl ein, jetzt zu wissen, was zu tun ist. Dem allerdings eine Menge an innerer Arbeit vorausgegangen sein sollte. Was ich meine, lässt sich am ehesten als ein reflektiertes Gefühl beschreiben. Eine vernunftgeleitete Synthese aus Traum und Wachen, Unbewusstem und Bewusstsein, Ratio und Emotio.
Wenn wir uns die Zeit geben, Träumen und Unbewusstem nachzuspüren, Impulse zu empfinden, ohne sie sofort in Handlungen umzusetzen und unsere Vernunft dabei nicht abschalten: Dann finden wir unseren Weg.
*sämtliche Zitate dieses Artikels sind folgendem Text entnommen: C. G. Jung: Vom Wesen der Träume, 1945