Was Freud mit Libido wirklich meinte

Vor einiger Zeit wurde ich in einer Gruppensitzung von einem Patienten gefragt, was genau denn mit Libido gemeint sei. Die Frage beschäftigte ihn über mehrere Sitzungen hinweg und mir tat es auch etwas Leid, dass ich es nicht näher erklären konnte oder wollte.

Ich hatte schon einiges dazu gesagt, wollte das Thema aber auch - aus Rücksicht auf bestimmte Beziehungsdynamiken innerhalb der Gruppe - nicht zu sehr forcieren. So blieb ein für ihn wichtiges Thema, das sich hinter seiner Frage nach der Libido verbarg, unbeantwortet.

In diesem Artikel möchte ich nun eine Annäherung an Freuds Konzept von Libido versuchen. Mit Worten aus unserer heutigen Zeiten heraus. Und mit Respekt vor dem, was Freud - jahrelang in seiner Arbeit auf sich allein gestellt - für uns bereits vor rund 100 Jahren herausgearbeitet hat.

Das Streben nach Verbindung

Die Libido lässt sich vielleicht am ehesten - und sehr vereinfacht - als ein intensives Bindungsstreben beschreiben. Der Wunsch sich verbunden zu fühlen, auf geistiger ebenso wie auf körperlicher Ebene.

Freud ging zu seiner Zeit stets von Trieben aus und verstand deshalb auch die Libido als einen von zwei grundlegenden Trieben. (Das Gegenstück zur Libido - der Lebenskraft - war seiner Konzeption nach Thanatos - der Todestrieb. Dazu an anderer Stelle gerne mehr.)

Die Libido kann nun auf dreierlei Weise wirksam werden:

  • Wir können uns selbst lieben: das ist die narzisstische Seite der Libido. Wobei Narzissmus nicht wertend gemeint ist. Sich selbst zu lieben ist gesund und wichtig. Die Frage ist eher, wie weit wir es damit treiben.

  • Wir können eine andere Person lieben: einen Elternteil, eine Schwester, eine Freundin, unseren Partner, das eigene Kind. Freud nennt das die Objektliebe.

  • Wir können innerhalb einer Masse von Menschen die anderen Menschen, die Teil dieser Gruppe sind, lieben.

Die Liebe zu sich selbst findet ihre Grenze da, wo sie auf Fremdliebe stößt. Was bedeutet das? Wir sind bereit, uns mit unseren ganz persönlichen Bedürfnissen und Wünschen zurückzunehmen, um die Beziehung zu einer geliebten Person zu sichern. Und um uns in eine ganze Gruppe von Menschen so einzufügen, dass diese Gruppe existieren und gedeihen kann.

Warum sind wir bereit zu solchen Einschränkungen unserer Selbstliebe? Ein Grund dürfte sein, dass wir auf Beziehungen zu anderen existentiell angewiesen sind, um Schutz und Geborgenheit zu erleben. Und zwar nicht nur, indem uns jemand ein Haus kauft, in dem wir mit ihm leben können. Oder uns eine Masse verteidigt gegen äußere Feinde.

Sondern auch auf emotionaler Ebene: Indem wir emotionalen Halt bei anderen finden. Indem wir uns durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe geschützt und geborgen fühlen. Sowie in unseren Vorstellungen und Phantasien, die wir uns von Geborgenheit, Sicherheit und Wertschätzung machen.

Eine unvollständige Liste an möglichen Gefahren

Gibt es Gefahren, die durch unsere Gefühlsbindungen - an uns selbst, an eine andere Person, an eine ganze Gruppe - entstehen können?

Defintiv. Und jede:r von euch wird mit dem einen oder anderen davon schon so seine:ihre Erfahrungen gemacht haben.

Hier eine kleine Aufzählung:

  • Wir können uns so wichtig nehmen, dass wir unser Gegenüber aus dem Blick verlieren. Dass wir nicht mehr in der Lage sind, uns ausreichend in die Perspektive des Gegenüber hineinzuversetzen und uns ganz im Recht fühlen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Das wäre ein Zuviel an narzisstischer Libido.

  • Wir können uns im anderen verlieren und dabei unsere wichtigen eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu oft hintanstellen. Eine Selbstaufgabe, die über kurz oder lang starkes psychisches Leiden mit sich bringt. Denn unser Gegenüber weiß entweder nicht, dass wir mehr geben als uns gut tut. Oder aber, er:sie macht gerne auf unsere Kosten Gebrauch davon. Dies wäre ein Zuviel an Objektliebe.

  • Wir können uns ganz den Bewegungen einer Masse hingeben, ohne zu reflektieren, ob das Handeln der Masse noch gerechtfertigt ist. Wir finden dann Wege, das Verhalten der Masse zu rechtfertigen, obwohl es eigentlich bei genauerer Betrachtung unseren ursprünglichen Werten und Anschauungen von der Welt widerspricht. Die genauere Betrachtung setzt in der Masse aus. Es ist ein Wirkmechanismus von Massen.

Eine Klarstellung

Die Libido wird gerne als sexuelle Anziehung übersetzt. Und zwar mit einem engen Begriff von Sexualität, der verkennt, wie weit Freud die Begriffe Libido und Sexualität fasste.

Denn er sah darin keineswegs den rein sexuellen Akt. Für ihn waren Libido und Sexualität Kräfte der Gefühlsbindung zwischen Menschen. In einem philosophischen Sinne gar Lebenskräfte. Da er Triebtheoretiker war, verstand er sie als Triebe. Die sich sowohl körperlich äußern - zum Beispiel im sexuellen Akt. Als auch seelisch - im Suchen nach emotionaler Nähe und Verbindung.

Freud schreibt in seinem Spätwerk ‘Jenseits des Lustprinzips’:

»Der Begriff der “Sexualität” - und damit der eines Sexualtriebes - mußte freilich erweitert werden, bis er vieles einschloß, was sich nicht der Fortpflanzungsfunktion einordnete, und darüber gab es Lärm genug in der strengen, vornehmen oder bloß heuchlerischen Welt.«

Heute könnte man statt von Libido auch von Bindungsstreben sprechen. Es besteht darin aber auch die Gefahr, den sexuellen Akt zu sehr auszuklammern, ihn gedanklich zu einem Tabu zu machen, anstatt zu versuchen, seine Wurzeln zu verstehen.

Der sexuelle Akt taucht aber immer wieder gerade in Beziehungen auf, in denen er aus gutem Grund in einer zivilisierten Gemeinschaft ein Tabu darstellt. Es ist eine zivilisatorische Errungenschaft, hier Grenzen einzuziehen. So hat es auch Freud gesehen. Umso mehr war er sich dessen bewusst, welche Gefahren in dieser Hinsicht lauern, sobald wir an Zivilisiertheit einbüßen.

Fazit

Was ist die Libido? Eine Kraft, die jedem Menschen innewohnt. Die nach Verbundenheit strebt, nach Leben und Lebendigkeit.

Sie ist für sich genommen weder gut noch schlecht. Sie ist.

Gutes und Schlechtes entsteht durch die Art, wie wir als Menschen uns entscheiden, sie auszuleben. Wie sehr reflektieren wir unsere Gefühle, Sehnsüchte und Handlungsmotive? Welche Balance finden wir zwischen Hemmungslosigkeit und Gehemmtheit? Zwischen Denken und Fühlen?

Es liegt an uns.

Danke für Deine Aufmerksamkeit!

L. Streck

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