Die kopernikanische Wende in der Psychoanalyse

Laut der modernen Psychoanalyse ist das eigentliche Subjekt der Psychotherapie nicht der Patient, sondern die Beziehung zwischen Therapeut:in und Patient:in. Erst aus dieser Beziehung heraus, die beide miteinander erschaffen und gestalten, entwickelt sich etwas Heilsames für den Patienten und Entwicklungsprozesse werden in Gang gesetzt.

So wie keine Patientin unverändert aus einem therapeutischen Prozess herausgeht, trifft dies auch auf die Psychotherapeutin zu. Mit jeder Beziehung, die eine Therapeutin in einer Therapie durchlebt, verändert sich nicht nur das Selbst des jeweiligen Patienten, sondern auch ihr eigenes. Diese Perspektive auf den psychotherapeutischen Prozess ist auch auf den Coaching-Prozess übertragbar.

Lass uns anhand von Michael Ermanns Buch ‘Der Andere in der Psychoanalyse’ tiefer einsteigen in die Frage, welcher Ansatz hinter diesen Überlegungen steckt und wieso er sich so tiefgreifend von Freuds frühem Blick auf die Psychoanalyse unterscheidet.

Einleitung

Seit den Anfängen der Psychoanalyse mit Sigmund Freud vor 125 Jahren haben sich innerhalb dieser Wissenschaft und Praxis zahlreiche Entwicklungen vollzogen. Den modernsten Ansatz stellt das Konzept der Intersubjektivität dar. Es wurde in den 1990er Jahren in den USA entwickelt und beeinflusst seither zunehmend die unterschiedlichen Richtungen der Psychoanalyse.

Was bedeutet Intersubjektivität? Es geht hier um einen “Zustand der Bezogenheit zwischen Subjekten” (Ermann, 2016) - im Fall der Psychoanalyse zwischen Klient:in und Psychotherapeut:in. Der intersubjektive Ansatz lässt sich aber auch für eine Haltung im Coaching und in Supervision verwenden.

Freuds Sicht auf die Rolle des Psychotherapeuten

Während sich bereits in Werken von Sigmund Freud erste Spuren eines intersubjektiven Ansatzes entdecken lassen, war sein Konzept vom Psychotherapeuten letztlich:

  • Ein außenstehender Beobachter, der

  • den Übertragungen der Patient:innen ausgesetzt ist und widerstehen muss und

  • der den unbewussten Widerstand von Patient:innen offenlegen, gar brechen muss, damit sie genesen können.

Die Kernaussage des Intersubjektivismus

Dagegen geht der intersubjektive Ansatz davon aus, dass Psychotherapeut:innen ein direkter Teil des Geschehens sind. Sie können nicht von außen objektiv darauf schauen. Sondern haben die herausfordernde Aufgabe, eine Balance zu finden zwischen der zum Denken und emotionalen Verarbeiten nötigen professionellen Distanz einerseits. Und andererseits der Fähigkeit, mitzuschwingen und sich von Patient:innen derartig beeinflussen zu lassen, dass ein für sie hilfreicher Beziehungsprozess entsteht.

Patient:in und Psychotherapeut:in beeinflussen sich laut intersubjektivem Ansatz unweigerlich gegenseitig und formen den psychotherapeutischen Raum gemeinsam. Psychotherapeut:innen und Coaches, die mit diesem Ansatz arbeiten, tragen also letztlich einer Tatsache Rechnung, die ohnehin vorliegt, anstatt innerlich gegen sie anzukämpfen oder sie zu verleugnen. Indem wir die gegenseitige Beeinflussung von Psychotherapeutin und Patient, von Coach und Klientin akzeptieren, entsteht Raum, die darin entstehenden Prozesse zu reflektieren und für die Entwicklung der Klient:innen nutzbar zu machen.

Laut Ermann ist die “Kernaussage des Intersubjektivismus (…), dass menschliche Entwicklung und menschliches Verhalten nur im Kontext der Bezogenheit verstanden und übrigens auch verändert werden können. Die Annahme einer individuellen Psyche, die sich unabhängig von einem intersubjektiven Feld entwickelt, halten die Intersubjektivisten dagegen für eine Illusion.”

Der Fokus des intersubjektiven Ansatzes liegt damit nicht auf dem Subjekt (Patient:in, Klient:in, Freund:in, Mutter, Vater, Tochter, Sohn etc.), sondern auf der Bezogenheit zwischen den Individuen. Unser Selbst entsteht und entwickelt sich aus solchen Bezogenheiten heraus und kann nicht als unabhängig von diesen gedacht werden. Wir existieren in Bezogenheit zu anderen. Und zwar nicht: auch dort. Sondern: nur dort.

Die kopernikanische Wende in der Psychoanalyse

Es ist eine kopernikanische Wende der Psychoanalyse, die hier stattgefunden hat. Nicht die Sonne dreht sich um die Erde, sondern die Erde kreist um die Sonne. Nicht das Subjekt steht im Zentrum der Betrachtung, sondern die Bezogenheit zwischen Subjekten.

Daraus folgt, dass nicht nur Klient:innen verändert aus einem psychotherapeutischen oder Coaching-Prozess hervorgehen. Sondern auch Psychotherapeut:in oder Coach selbst.

Fazit

Der intersubjektive Ansatz entspricht meiner persönlichen professionellen Erfahrung. Deshalb bin ich froh und dankbar, im vergangenen Jahr auf ihn gestoßen zu sein und mit seiner Hilfe meine Gedanken und Erfahrungen nicht nur ordnen zu können, sondern auch bestätigt zu wissen.

Bisher hat mich kein Patient, keine Klientin unverändert zurückgelassen. Sie alle haben Spuren in mir hinterlassen, mein Leben reicher gemacht. Nicht nur sie sind gewachsen, sondern ich mit ihnen.

Buchempfehlung:

Michael Ermann: Der Andere in der Psychoanalyse (2017)

Podcast-PS:

Ein Podcast zu psychodynamischem Business-Coaching, den ich mit drei Kollegen gegründet habe, ist mit den ersten Folgen online gegangen. Was geht mir dazu durch den Kopf?

  • Die Gruppendynamik innerhalb unseres Podcast-Teams changiert zwischen Freude an der Arbeit, Angst, sich online/öffentlich zu zeigen, und Rivalität untereinander.

  • Dies wird auch für den Zuhörer spürbar. So richtig ins Rollen kommen die Gespräche immer erst nach der Hälfte der Folge oder sogar im Backstage, wenn die Folge abgeschlossen ist.

  • Mein Learning: Die Teamzusammensetzung und Qualität der Beziehungen untereinander ist essentiell für die Qualität des Endprodukts :)

  • Mein 2. Learning: Ich will nur dauerhaft an Projekten mitwirken, die mir überwiegend Freude bereiten und mit deren Endergebnis ich zufrieden sein kann.

Wenn du Lust hast, mal reinzuhören, hier sind die Links für Apple Podcast und Spotify:

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